Ein Taucher vor einem ISO9001-Schriftzug
Qualitätsmanagement

ISO 9001:XY? – ein Tauchgang mit vier Tipps

Dr. Markus Reimer / 13.10.2021

Eine Revision der ISO 9001 wird es nicht geben – zumindest nicht in naher Zukunft. Dr. Markus Reimer erörtert, warum diese Entscheidung aus seiner Sicht richtig war. Er taucht mit uns ein in die Erkenntnisse, die uns helfen, die bestehende ISO 9001:2015 noch besser zu verstehen und umzusetzen.

Revision oder nicht Revision? Eine Frage.

Nicht-Revision! Das ist die gegebene und feststehende Antwort auf die Überschrift-Frage. Und das ist einigermaßen überraschend. Es war in den letzten Jahrzehnten recht üblich, alle sechs bis sieben Jahre die ISO 9001 einer Revision zu unterziehen. Die Welt entwickelt sich weiter, vor allem die sich in ihr befindende Technologie, die sie bestimmenden Themen und die hier heraus entstehenden und auf sie rückwirkenden neuen Herausforderungen und Ansprüche, politische wie gesellschaftliche, sowieso. Da liegt es nahe, dass ein Managementsystem, welches dieser Welt gerecht werden soll, auch immer wieder angepasst wird. Das passiert in regelmäßigen Abständen. Mal gibt es eine kleinere Überarbeitung, zum Beispiel 2008, und das andere Mal gibt es eine komplette Überarbeitung, zum Beispiel 2015. Und mal gibt es gar keine, zum Beispiel 2021/2022. Keine kleine, keine große, einfach gar keine Revision.

Warum das? Weil, so heißt es aus gut informierten Kreisen, das zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht so sehr notwendig sei. Und ich als Berater und Auditor für Managementsysteme nach ISO 9001 möchte diesem zustimmen. Vollends. Lernen wir erst die „alte“ 2015er Version noch besser verstehen und umsetzen. Und dafür lohnt es sich, in die Erkenntnisse aus den letzten sechs Jahren, also seit Einführung von ISO 9001:2015, einzutauchen.

Das Kontextuale

Grundsätzlich kann und muss ein Qualitätsmanagementsystem immer ganzheitlich verstanden werden. Es beginnt und endet bei der Führung – mit einem ausführlichen Weg durch das gesamte Unternehmen und dessen Kontext. Daran hat sich nichts geändert. Das heißt: Wer Qualitätsmanagement ausschließlich auf Produkt- oder Dienstleistungsqualität bezieht, hat weder das eine, noch das andere verstanden.

Wo genau liegt also nach wie vor die Herausforderung? In vielen Organisationen wird der notwendig zu betrachtende Kontext noch immer eher halbherzig analysiert. Dabei muss genau diese Analyse der Ausgangspunkt des gesamten Managementsystems sein. Es gibt mehrere Methoden, sich dieses Themas systematisch und inhaltsstark anzunehmen: Die PESTEL-Analyse oder die SWOT-Analyse sind nur zwei Beispiele, die auch in der ISO/TS 9002:2016 explizit genannt und damit empfohlen werden. Die Wirklichkeit in Organisationen sieht oft so aus: Es wurde nach 2015 eine Liste mit externen und internen Themen und mit interessierten Parteien aufgestellt. Diese Liste existiert seitdem und wird jährlich sozusagen bestätigt: „gilt immer noch“, „hat sich nichts verändert“ etc. Das ist zugegeben normkonform. Es ist aber nicht sinnvoll.

Tipp: Unternehmen sollten sich viel mehr Zeit nehmen, das Kontextuale systematisch, analytisch, ernsthaft und konstruktiv zu betrachten. Hier ist die Norm auf der Höhe der Zeit; manches Unternehmen ist da noch auf dem Weg.

Das Prozessuale

Markus Reimer

Direkt im Anschluss geht es darum, die notwendigen Prozesse zu bestimmen. Prozesse werden nach wie vor sehr oft als Ablaufbeschreibungen verstanden. Selbstverständlich sind Prozesse auch Abläufe. Aber es sind eben Abläufe, die gesteuert werden müssen. Und das ist dann der große Unterschied zu Verfahren. Es ist von enormer Bedeutung, diese Unterscheidung zu verstehen.

Bei Verfahren ist grundsätzlich am Anfang schon klar, was am Ende erreicht sein wird. Nehmen wir, um bei einem sehr einfachen Beispiel zu bleiben, die Bearbeitung eines Urlaubsantrags. Dieser wird am Ende genehmigt oder abgelehnt. Fertig. Dafür gibt es einen festgeschriebenen Ablauf, der einzuhalten ist. Das heißt nicht, dass ein Verfahren unwichtiger ist als ein Prozess! Es fehlt nur das Steuerungspostulat.

Bei Prozessen ist grundsätzlich am Anfang nicht klar, was am Ende erreicht sein wird. Nehmen wir hier den Vertrieb eines Produktes. Es ist nicht möglich zu sagen, wann, wieviel, zu welchem Preis an wen man etwas verkauft. Eine Ablaufbeschreibung hilft, aber es muss gesteuert werden. Um dies machen zu können, ist eine klare Zielsetzung mit realistischen Sollvorgaben und entsprechend abbildenden Leistungsindikatoren notwendig. Anhand dieser kann der Prozess in Richtung Zielsetzung gesteuert werden. Dies ist noch immer eine sehr große Herausforderung für Unternehmen.

Tipp: Unternehmen sollten ihre Prozesse immer wieder reflektieren und den beiden Fragen nachgehen: Ist das wirklich ein Prozess, der gesteuert werden kann und muss? Und welche Bedeutung hat dieser Prozess für das Gesamtergebnis des Unternehmens?

Das Kasuale

Grundsätzlich kann und muss ein Qualitätsmanagementsystem immer ganzheitlich verstanden werden. Es beginnt und endet bei der Führung. Und hier gilt es, das Betriebssystem des Managementsystems zu betrachten: die Qualitätspolitik. Oder die Unternehmenspolitik. Es muss feststehen, warum und wozu das Unternehmen so agiert, wie es agiert. Dazu braucht es ein allgemeines Verständnis aller im Unternehmen, das berühmte Commitment. Dazu müssen der Kontext sowie die Erwartungen und Bedürfnisse der interessierten Parteien verstanden werden. Und dazu wiederum muss die gegenwärtige und zukünftige Ausrichtung des Unternehmens klar sein. Das scheint logisch zu sein. Ist es aber nicht. In vielen Unternehmen ist die Qualitäts- oder Unternehmenspolitik beliebig und damit austauschbar: „Mit unseren herausragenden Mitarbeitenden schaffen wir die höchste Kundenzufriedenheit.“ Das kann aber sowohl für Hersteller von Raumschiffen als auch für Kaugummiverleiher gelten. Ein ernsthaftes Commitment ist hier nicht möglich – auch wenn dieser Allgemeinplatz als Politik im Unternehmen noch so gut kommuniziert ist. Das findet man in Unternehmen nach wie vor häufig.

Tipp: Unternehmen sollten für sich eine Qualitätspolitik formulieren, die auf ihr Unternehmen zugeschnitten ist, ihr tägliches Handeln widerspiegelt und mit der sich alle Mitarbeitenden, aber auch Kunden und Lieferanten, identifizieren können und wollen.

Die Potenziale

Risikobasiertes Denken! Ein wichtiges Schlagwort, das in der ISO 9001:2015 seinen Ausgangspunkt hat und sich in Unternehmen vielfältig wiederfindet. Auch wenn es immer wieder bei den entsprechenden Maßnahmen, die aus der Risikoidentifizierung und -bewertung abgeleitet werden sollten, die eine oder andere Lücke gibt. Aber das Thema ist angekommen und wird im Großen und Ganzen beherrscht. Doch das Risiko ist ja nur die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite steht die Chance. Und hier kann von keiner Lücke gesprochen werden – eher von einer Schlucht. Das Gute dabei: Diese Schlucht ist voll mit Möglichkeiten, mit Chancen eben. Aber wenige Unternehmen tauchen in dieses Thema konstruktiv ein. Nun ist ein Managementsystem nicht deswegen hoch dysfunktional, weil Chancen nicht erkannt, ja, noch nicht einmal gesucht werden. Aber funktional ist es dann eben auch nicht.

Das Thema „Chancen“ wurde 2015 neu eingeführt, es hatte also keine Tradition im Qualitätsmanagement. Kontinuierliche oder fortlaufende „Verbesserung“ ist nicht gleich „Chancen“; darüber sind sich eigentlich auch alle klar. Aber wie man mit dem Thema systematisch umgehen kann, das ist sicher noch eines der größten Potenziale der ISO 9001:2015. Denn, wie man öfter in Unternehmen sieht: Das Erreichen eines Prozess- oder gar Unternehmenszieles ist keine Chance; das ist die Absicht, das Ziel. Chancen ergeben sich jenseits der Ziele. Nehmen wir ein Beispiel: In einem Pflegeheim wird für die Mitarbeitenden ein Betriebliches Gesundheitsmanagement eingeführt, um gesundheitlichen Schäden vorzubeugen. Da nun aber das BGM im Unternehmen vorhanden ist: Warum sollte man das nicht auch über das Personalmarketing nach außen kommunizieren und sich so als Arbeitgeber attraktiver machen?

Tipp: Unternehmen sollten ihre Prozesse, ihre Verfahren, ihre Ressourcen, ihre Lieferanten, ihre Mitarbeitenden und noch mehr viel intensiver dahingehend betrachten/befragen, welche „eh-schon-da“-Voraussetzungen vorhanden sind – und daraus ableiten, welche Chancen sich daraus für die Zielsetzungen des Unternehmens ergeben.

Auftauchen

Das sind nur vier Themen, in denen die ISO 9001 noch viele Potenziale bereithält. Es gibt noch weitere. Hier sollte aber einfach ein kleiner Abriss aufgezeigt werden. Und sollte es nun für Unternehmen doch „langweilig“ werden, weil sie auf eine Revision der ISO 9001 vergeblich gewartet hatten: Es gibt noch die ISO 9004 oder das EFQM-Modell oder die GRI-Standards … mit anderen Worten: Es gibt immer was zu tun, wie ein berühmter und zutreffender Werbeslogan lautet. Es wird immer ratsam sein, aus dem Arbeitsalltag aufzutauchen, sich einen Überblick zu verschaffen, um dann wieder zielgerichtet zu einem der vielen Themen abzutauchen und die entsprechenden „ISO-9001-Schätze“ zu heben. Und man kann dabei kaum etwas falsch machen!

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