Markus Reimer

Qualität ist alles!

Dr. Markus Reimer / 23.07.2020

Aber es muss doch mehr als alles geben. Qualität wird oft und vor allem noch zu oft viel zu klein gedacht. Wir müssen uns der Auswirkungen von Qualität besser bewusst werden – und dann danach handeln. Das ist eine Mammutaufgabe für alle. Es wird sich aber lohnen: für Unternehmen, Märkte, Gesellschaften – mit anderen Worten für alle.

Das Ende des Wasserflohs

Kennen Sie die geradezu geniale Überlebensstrategie des Wasserflohs? Sie ist so effizient und effektiv wie nur überhaupt denkbar. Es ist nach meiner Ansicht geradezu ein Paradebeispiel aus der Natur, welches wir in vielerlei Hinsicht auf unser Leben übertragen können. Denn von der Natur lernen, heißt sehr oft: Überleben lernen. Die Natur zeigt uns Lösungen für Herausforderungen und Probleme, wie sie einfacher und effektiver kaum sein könnten.

Der gar nicht mal so bekannte Wasserfloh liebt es, wenn seine Umgebung feucht und warm ist. In einer solchen Umgebung vermehrt sich der Wasserfloh praktisch ungebremst – und das ungeschlechtlich. Ein Wasserflohkind gleicht dem anderen Wasserflohkind bis aufs dünne Haar. Dabei gibt es ausschließlich Weibchen. Der Kontext passt, die Voraussetzungen könnten nicht günstiger sein, er überflutet seine Umgebung mit sich selbst. Das ist hocheffizient!

Es ist vergleichbar mit einem Unternehmen, welches gerade jetzt mit einem Produkt einen Markt gefunden hat, der genau jetzt dieses eine Produkt ohne Kompromisse haben will. Natürlich wird da weiter produziert. Der Fokus liegt auf „noch mehr von diesem Produkt“ und „noch mehr Umsatz durch dieses Produkt“. Warum auch nicht? Es erklärt sich von selbst. Läuft!

Doch Märkte verändern sich genauso schnell wie die Umgebung des Wasserflohs: Märkte brechen plötzlich ein, neue Technologien verändern alles, völlig neue Möglichkeiten lassen die alten Möglichkeiten hinter sich, Kunden wenden sich ab, Wettbewerber tauchen mit noch besseren oder günstigeren Produkten auf. Und dann ist ja auch noch Greta Thunberg in aller Munde… Der Markt, die Umgebung wird ungemütlich, frostig, umkämpft – plötzlich geht es ums Überleben. Die eingeschlagene Strategie „Weiter so und mehr davon“ führt schnurstracks ins Verderben. Das Besondere daran: Man liefert die gleich hohe Qualität wie bisher. So manches Unternehmen kann es oftmals nicht glauben, dass das, was eben noch funktioniert hat, jetzt plötzlich nicht mehr funktioniert. Der mögliche Plan B „Das geht schon wieder vorbei“ ist aussichtslos, wird aber trotzdem mehr als oft gewählt.

Der Anfang des Wasserflohs

Der Wasserfloh hat das System verstanden. Er nutzt die Situation, wenn sie ihm gefällt, also wenn es warm und feucht ist. Aber er ist auch vorbereitet! Wenn sich seine Umgebung nämlich ändert und komplizierter, also vielleicht nicht nur kalt, sondern auch noch trocken wird, dann hat er einen zweiten Plan. Wenn es ums Überleben geht, dann erblicken plötzlich Wasserfloh-Männchen das Licht der Welt. Und diese sorgen dafür, dass es mit den reichlich vorhandenen Weibchen zur geschlechtlichen Fortpflanzung kommt. Geschlechtliche Fortpflanzung heißt nichts anderes als neue DNA. Es entsteht Neues! Kein Wasserflohkind gleicht mehr dem anderen. Und dieses Neue ist völlig anders disponiert: Es ist vielfältiger, anpassungsfähiger, kann andere Lösungen aufbieten und ist somit überlebensfähiger. Die altbewährt disponierten Wasserflöhe segnen im neuen Kontext das Zeitliche.

Dass so manches Unternehmen nun vom Wasserfloh lernen kann, liegt auf der Hand. Es geht darum, die kontextualen Zusammenhänge zu verstehen und darauf vorbereitet zu sein, dass diese sich verändern. Unternehmen befinden sich sozusagen in instabilen Wasserflohpfützen. Es gilt, sich immer wieder neu anzupassen und vielleicht auch das Ungewöhnliche zu erschaffen. Wasserflöhe lehren uns, dass Kreativität, Neues und sich anschließende Innovationen das Überleben sichern. So weit, so gut.

Aber wollen wir einfach nur wie Wasserflöhe sein? Ist es der Gipfel der eigenen Performance, von sich behaupten zu können, man sei aber sowas von auf Augenhöhe mit dem gemeinen Plattkopf-Wasserfloh? Eher nicht. Die Augenhöhe mit dem Wasserfloh ist das Mindeste. Das Entscheidende ist, diese Augenhöhe zu überwinden und darüber hinauszuschauen.

Und jetzt alles

In der vielzitierten VUKA-Welt, die alles verändert und die unbeherrschbar ist, ist es durchaus eine wesentliche Herausforderung, auf alles vorbereitet zu sein. Doch was ist dieses Alles? „Alles“ ist der Kontext, der Zusammenhang nach innen und nach außen. Der Kontext kennt keine Grenzen. Jede Organisation ist mittendrin. So ähnlich wie der Wasserfloh in seiner Pfütze oder eben „Nicht-mehr-Pfütze“. Darauf ist der Wasserfloh vorbereitet. Unternehmenslenker müssen darauf genauso vorbereitet sein: auf die Pfütze, die trockene Kuhle, auf alles dazwischen und darüber hinaus.

Dazu gilt es darüber nachzudenken, wo Qualität beginnt, wie sie gestaltet werden kann und auch wo sie endet. Mit anderen Worten: Das Alles fängt sozusagen dort an, wo die Pfütze, das Herkömmliche, das Notwendige endet. Wenn alles gut werden soll, dann sind Organisationen für die Zukunft aufgefordert, Qualität weit über sich und ihre klassischen
Kunden hinaus zu denken. Hierfür gibt es mehrere Perspektiven, die es zu berücksichtigen gilt.

Markus Reimer mit einem Buch in den Händen

Als Auditor erlebt Dr. Markus Reimer das Qualitätsmanagement und die Schwachstellen in der Praxis. Für ihn steht fest: Unternehmen müssen Qualität anders denken, um sich erfolgreich zu positionieren.

Perspektive 1: Die Mitarbeitenden sind alles – Der Mikrokosmos

Trotz Corona-Krise ist der Arbeitsmarkt für Fachkräfte in weiten Teilen Deutschlands weiterhin leer und es ist für viele Unternehmen geradezu ein unmögliches Unterfangen, neue Mitarbeitende zu gewinnen. Es ist zunächst einmal einfach, die ausbleibenden Bewerberinnen und Bewerber auf den Fachkräftemangel zurückzuführen. Das ist insofern geistig bequem, da ein Schuldiger gefunden ist: der Arbeitsmarkt. Und das heißt: nicht das eigene Unternehmen. Ausgeblendet wird dabei, dass es einige Unternehmen gibt, die gerade nicht unter dem Fachkräftemangel leiden. Sie können alle Stellen besetzen. Sie haben genügend Bewerber. Sie können sich von diesen sogar die besten aussuchen und die übrigen wieder wegschicken. Wie kann das sein?

Die Antwort ist einfach: Es hängt an der Qualität. Diese Unternehmen haben es geschafft, ihre interne Qualität so auszubauen und nach außen zu kommunizieren, dass sie anspricht und auch geglaubt wird. Somit kommen Menschen in diese Unternehmen, die sich genau dort einbringen wollen. Die Konsequenz daraus ist der Aufbau einer immer stärkeren Unternehmens- und damit auch Arbeitgeber-marke. Diese Form der internen Qualität muss erkannt und forciert werden. Denn: Der Weg des zukünftigen Erfolgs von Unternehmen wird nicht überall, aber in weiten Teilen der Unternehmenslandschaften über Menschen gewährleistet. Die Arbeit in den Unternehmen der Zukunft darf nicht einfach ein Job sein. Jobs werden automatisiert. Die Arbeit in Unternehmen muss kreativ, herausfordernd, probierend und natürlich auch erfolgversprechend sein. Sie ist das, was nicht automatisiert werden kann: Kreativitätsqualität.

 

Perspektive 2: Die Kunden sind alles – Der Mesokosmos

Im Zeitalter des Digitalen, in der die physische Welt immer mehr digital abgebildet wird, ist es immer besser möglich, Angebote zu kreieren, die bis vor Kurzem undenkbar schienen. Dies liegt nicht zuletzt an den Möglichkeiten der individualisierten Automatisierung. Damit können Kundenwünsche in einer Präzision und Perfektion der Vielfalt erfüllt werden. Das ist Qualität in bester Art und Weise! Denn nach wie vor ist Qualität definiert als der Grad, in dem ein Satz inhärenter Merkmale Anforderungen erfüllt.

Das Problem für Organisationen taucht aber bereits einen kleinen Schritt hinter der Präzision und Perfektion auf: Automatisiert heißt, dass es jeder kann. Umso mehr automatisiert wird, desto weniger werden Unterschiede erkenn- und erlebbar. Wenn das Unternehmen bei der Präzision stehen bleibt, wird es austauschbar. Dort, wo der Mensch keine wesentliche Rolle mehr im Produktions- oder Dienstleistungsprozess spielt, wird alles gleich.

Und hier wird es erst richtig interessant, wenn wir vom Qualitätsbegriff der Zukunft sprechen. Denn dort, wo der Mensch über das Automatisierte hinaus agiert, wird Differenzierung möglich. Und diese Differenzierung wird sich weniger auf das Produkt oder die Kerndienstleistung beziehen müssen, sondern viel eher auf das, was den Kunden umgibt. Die klassische Userstory kommt zum Tragen. In welchem Kontext bewegt sich der Kunde, wie kommt in diesem das individualisierte Produkt zum Einsatz und wie kann das eigene Unternehmen mit seinen engagierten, mitdenkenden Mitarbeitenden für seine Kunden ein Gesamterlebnis möglich machen? Darauf muss sich Qualität in der Zukunft konzentrieren und ausrichten: das Gesamterlebnis über das eigentliche Produkt, über das Kerngeschäft hinaus. Das kann nicht automatisiert werden. Das ist Differenzierung. Die individualisierte Automatisierung schafft die Basis und die Menschen schaffen die Begeisterung, die Emotionen, das Gesamterlebnis. Das Unternehmen wird so Teil der Story, die der Kunde sein Leben nennt. Das ist das Alles um den Kunden herum.

Perspektive 3: Die Interessierten sind alles – Der Mikro-Makrokosmos

Es war einmal, dass man ein Produkt so einfach kaufen und man es dabei auch einfach so belassen konnte. Mittlerweile will man wissen, woher und wie die Produkte in die Regale kommen und wie sie nach dem Gebrauch verwertet werden. Das alles ist eigentlich für das Produkt an sich nicht von großer Relevanz; aber es ist für den Gesamtzusammenhang mittlerweile von großer Bedeutung. Es gibt inzwischen neben dem klassischen Kunden, der einfach ein gutes Produkt haben will, den sehr interessierten Kunden. Darüber hinaus gibt es jede Menge weitere Interessierte, denen das Produkt an sich als Kaufobjekt sogar egal ist, die aber an den Rahmenbedingungen des Produkts und des Unternehmens Interesse haben. Und die Interessierten werden immer mehr. Die Galionsfigur der Interessierten ist gegenwärtig sicher Greta Thunberg. Qualität heute muss das Gesamte erfassen; anders ist es nicht mehr möglich. Interessierte oder potenziell Interessierte gibt es überall und es gibt genügend Unternehmen, die genau dieses Interesse schon schmerzhaft zu spüren bekommen haben. Qualität ist eben alles.

Perspektive 4: Die Welt ist alles – Der Makrokosmos

Die große Schule der Qualität in der Zukunft ist die, die über bewusste oder unbewusste Anforderungen hinausgeht. Mit anderen Worten: Es geht nicht mehr darum, für wen das Unternehmen welche Forderungen erfüllen kann. Es geht vielmehr darum, wie die Welt zu einer besseren werden kann und welchen Beitrag das eigene Unternehmen leisten will und kann. Ein möglicher wie auch sinnvoller Ankerpunkt dazu sind die mittlerweile berühmten 17 Ziele der UN zur nachhaltigen Entwicklung. Qualität denken diejenigen Unternehmen groß, die an diese Ziele konkret herangehen und einen Beitrag zur Verwirklichung leisten.

Die 17 globalen Ziele für nachhaltige Entwicklung der Agenda 2030 umfassen sehr viel von dem Alles. Sustainable Development Goals (SDGs) richten sich an Regierungen weltweit, aber auch an die Zivilgesellschaft, die Privatwirtschaft und die Wissenschaft. Sie sollen hier wegen ihrer großen weltumspannenden Relevanz prägnant aufgezählt werden: Armut beenden; Ernährung sichern – den Hunger beenden; gesundes Leben für alle; Bildung für alle; Gleichstellung der Geschlechter; Wasser und Sanitärversorgung für alle; nachhaltige und moderne Energie für alle; nachhaltiges Wirtschaftswachstum und menschenwürdige Arbeit für alle; widerstandsfähige Infrastruktur und nachhaltige Industrialisierung; Ungleichheit verringern; Städte und Siedlungen inklusiv, sicher, widerstandsfähig und nachhaltig gestalten; nachhaltige Konsum- und Produktionsweisen; Sofortmaßnahmen ergreifen, um den Klimawandel und seine Auswirkungen zu bekämpfen; Bewahrung und nachhaltige Nutzung der Ozeane, Meere und Meeresressourcen; Landökosysteme schützen; Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen; Umsetzungsmittel und globale Partnerschaft stärken.

Keines dieser Ziele dürfte überraschend sein. Sie sind schnell nachvollziehbar und lassen sich auch schnell befürworten. Es sind Ziele, die uns als Menschen ausmachen – oder zumindest ausmachen sollten. Das ist die Qualität, in der es um alles geht, denn es sind die aktuellen Anforderungen an uns alle. Unternehmen haben aufgrund ihrer wirtschaftlichen Stärke eine Reihe an Möglichkeiten, allein oder in Kooperationen zur Verwirklichung dieser Ziele beizutragen. Damit unterscheiden wir uns dann auch endlich und gänzlich vom Wasserfloh in seiner Pfütze.

Es gibt viel zu tun in Sachen Qualität und es ist unser aller Sache auf kleiner und globaler Ebene. Ein Leitmotiv kann dabei vielleicht die notwendigen Leitplanken bieten; es stammt von der Franziskanerin Basina Kloos: „Ohne Wirtschaftlichkeit werden wir es nicht durchhalten. Ohne Menschlichkeit werden wir es nicht aushalten.“

Kommentare

Keine Kommentare

Kommentar verfassen

* Diese Felder sind erforderlich