Im November 2017 erschien nach dreijähriger Arbeitsphase der Gelbband zum harmonisierten FMEA-Standard zwischen der AIAG (Automotive Industry Action Group) und dem VDA (Verband der Automobilhersteller e.V.). In der sich daran anschließenden 90-tägigen Kommentierungsphase gingen nach Aussage des Arbeitskreisleiters Hans-Joachim Pfeufer 3.692 Kommentare bzw. Einsprüche ein, die den ursprünglich straffen Zeitplan des Arbeitskreises sprengten. Die Veröffentlichung wird wahrscheinlich im dritten Quartal 2019 erfolgen. Welche Auswirkungen die Einsprüche zu dem Gelbband nach sich ziehen werden, ist derzeit nicht bekannt. Die folgenden Ausführungen beziehen sich daher auf den bis dato vorliegenden Gelbband sowie einen Statusbericht des VDA vom Februar 2019.

Allgemeine Betrachtung

Risikomatrix einer Design- und Prozess-FMEA

Das Positive schon mal vorweg: Für Unternehmen, die ihre FMEAs mit einer professionellen Softwarelösung gemäß dem bestehenden VDA-Standard von 2006/2012 erstellen, ändert sich voraussichtlich nicht allzuviel. Die Anbieter von FMEA-Software stehen in Kontakt mit dem FMEA-Konsortium und haben sich bereits mehrheitlich auf die Änderungen vorbereitet. Sie werden zeitnah nach Veröffentlichung des endgültigen Standards ihre Software-Updates auf den Markt bringen.

Als eine der größeren positiven Änderungen kann sicherlich der Entfall der Risiko-Prioritäts-Zahl (RPZ) und deren Ersatz durch die Aufgaben-Priorität (AP) angesehen werden. Hierbei werden vom harmonisierten FMEA-Standard in Abhängigkeit von der Bedeutung (B), Bereiche für das Auftreten

(A) und die Entdeckung (E) definiert, in denen weitere Aufgaben nach „muss“, „sollte“ und „kann“ eingeteilt werden. Auch, wenn die Definitionen der Bereiche in einzelnen Punkten noch nicht ganz nachvollziehbar erscheinen, ist es dennoch ein Weg in die richtige Richtung, den bereits einige vorausdenkende Unternehmen in einer ähnlichen Weise beschreiten.

Als ein weiterer positiver Punkt ist die Vereinheitlichung der Risikobewertung und der dafür angewandten Tabellen zu nennen. Dies war unter anderem einer der Beweggründe, wa- rum der Arbeitskreis zur Vereinheitlichung der beiden Standards nach AIAG und VDA ins Leben gerufen wurde.

Letztendlich sei noch das sogenannte Scoping erwähnt, das die bisherigen fünf Schritte zur FMEA-Erstellung neben einer abschließenden Ergebnisdokumentation auf jetzt insgesamt sieben Schritte erweitert. Im ersten Schritt erlaubt das Scoping Unternehmen nun, ihre FMEA-Anwendung auf Entwicklungen und/oder Prozesse zu fokussieren, in denen effektive Korrekturmaßnahmen zu erwarten sind. In diesem Zusammenhang entwickeln derzeit Unternehmen sogenannte Risikofilter, die auf Basis einer selbst definierten Logik die anstehenden Entwicklungen und/oder Prozessplanungen in „FMEA erforderlich“, „FMEA empfehlenswert“ oder „keine FMEA erforderlich“ einteilen.

Als eine weitere größere Änderung kann der Umgang mit den „Besonderen Merkmalen“ in der FMEA angesehen werden. In der Entwicklung müssen nun die „Besonderen Merkmale“ nicht mehr im FMEA-Formblatt abgebildet werden. Dieser Punkt aus dem Gelbband hat zu vielen Diskussionen geführt. Nachfragen beim Arbeitskreisleiter präzisierten schließlich den Punkt: selbstverständlich
kann die Design-FMEA weiterhin zur Analyse „Besonderer Merkmale“ genutzt werden – sie muss es aber nicht. Andere systematische Vorgehensweisen sind auch erlaubt. Bei der Prozess-FMEA hingegen zeigte sich im Gelbband noch eine kleine Schwachstelle, da hier die
„Besonderen Merkmale“ im FMEA-Formblatt nicht eindeutig den Produktmerkmalen oder Prozessmerkmalen zugeordnet werden können. Eine Thematik, die Software- nutzer allerdings nur in geringem Maße tangieren wird.

Den positiven Punkten steht allerdings der Punkt gegenüber, wenn Unternehmen ihre FMEAs noch mit Hilfe von EXCEL erstellen. Gemäß dem vorliegenden Gelbband müssten diese Unternehmen zukünftig die Systemstrukturierung sowie die Funktions- und Fehleranalyse im FMEA-Formblatt mit abbilden. Ein FMEA-Formblatt, welches diese Schritte enthält, würde dann 28 Spalten umfassen. Neben der aufwendigen und unübersichtlichen Erstellung ergäbe sich zudem eine schlechte Les- barkeit dieser formblattorientierten FMEAs.

Müssen Unternehmen nun alle ihre FMEAs ändern? Nein – nach Erscheinung des neuen harmonisierten FMEA-Standards gelten folgende Regeln: Begonnene FMEAs dürfen nach dem alten Standard fortgeführt werden, während neue FMEAs sich an dem neuen Standard orientieren sollten. Bei marginalen Änderungen bestehender FMEAs kann auch zukünftig der alte Standard weitergeführt werden. Bei größeren Änderungen ist hingegen ein Übergang auf den neuen Standard empfohlen.

Design-FMEA

Darstellung einer Risikomatrix im Rahmen einer Design-FMEA

Bei der Design-FMEA, bisher Produkt-FMEA genannt, tauchen keine gravierenden Änderungen gegenüber der bisherigen VDA-Vorgehensweise auf. Die Änderungen beziehen sich in vielen Punkten lediglich auf Präzisierungen und Ergänzungen. So werden beispielsweise neben den bekannten Begriffen der Funktion und dem Produktmerkmal, der Begriff Zweck (z.B. kleben, dichten) eingeführt und die Anforderungen in funktional beeinflussbare (z.B. Schaltzeit) und funktional nicht beeinflussbare Anforderungen (z.B. Vibrationsfestigkeit) unterteilt. Des Weiteren werden die Schnittstellen in physikalische, stoffliche, energetische und informationstechnische Schnittstellen untergliedert.

Eine wichtige Präzisierung betrifft die Bewertungskataloge und die Denkmodelle. Bei der Bedeutung werden nun ne- ben dem Endkunden auch die Bereiche Produktion und Montage mit einer eigenen Bewertungstabelle berücksichtigt. Bei der Bewertung des Endkunden erfolgt die Abstufung des B-Wertes nach den Kriterien Sicherheit (B=10), Gesetze (B=9), Hauptfunktion (B=8-7), Komfortfunktion (B=6-5) und dem Erscheinungsbild, der Haptik und Optik (B=4-2). InsbesondereLetztere sollte es ermöglichen, wieder realistische B-Bewertungen zu erhalten.

Eine differenziertere Betrachtung hat sich auch bei der Bewertungstabelle zum Auftreten ergeben. Hier können die Bewertungen nun neben Wahrscheinlichkeiten zum Auftreten über die Lebensdauer auch anhand von Erfahrungen und dem Vorhandensein geeigneter Vermeidungsmaßnahmen bewertet werden. Bei der Bewertung der Entdeckung wurde zudem ein neues Denkmodell eingeführt, welches eine bessere Zuordnung zwischen Vermeidungs- und Entdeckungsmaßnah- men erlaubt. Alle Maßnahmen, die bis zu einem Musterstand erfolgen (z.B. Simulation, FEM-Berechnung) werden als Vermeidungsmaßnahme geführt. Maßnahmen, die einen Test mit einem bestehenden Muster beschreiben, werden als Entdeckungsmaßnahmen gewertet. Damit ist nun klargestellt, dass Design-Reviews keine Entdeckungsmaßnahmen darstellen. Lediglich bei der Tabelle zur Bewertung der Entdeckung existiert ein etwas allgemeines Wording, welches keine klare Einstufung erlaubt.

Prozess-FMEA

Bei der Prozess-FMEA gibt es überwiegend positive Änderungen. Auch hier beziehen sich diese in vielen Punkten auf Präzisierungen und Ergänzungen. Als entscheidende Präzisierung gegenüber der bisherigen Fokussierung des VDA auf alle Prozessschritte des Arbeitsplans wird mit dem Gelbband eine Fokussierung auf die wertschöpfenden Prozessschritte definiert. Diese Fokussierung sollte zukünftig verhindern, dass in Prozess-FMEAs solch inhaltslose Fehler- ursachen, wie „Werkerfehler“ mit den wirkungslosen Maßnahmen „Werkerschulung“ und „Werkerselbstprüfung“ auftauchen. Eine weitere Präzisierung betrifft das Produktmerkmal (Fehlerebene), welches in dem Prozessschritt erzeugt wird sowie die Prozessmerkmale (Ursachenebene), die für dessen Erzeugung notwendig sind. Mit dieser Präzisierung wird eine bessere und logische Anbindung des Control-Plans an die Prozess-FMEA ermöglicht.

Die Bewertung der Bedeutung kann zukünftig über drei Bewertungskategorien nach Endkunde, beliefertem Werk und eigenem Werk unterschieden werden. Auch hier wurde ein neues Denkmodell eingeführt, welches eine bessere Zuordnung zwischen Vermeidungs- und Entdeckungsmaßnahmen erlaubt. Dabei gelten alle Maßnahmen, die eine fehlerhafte Herstellung des Produktmerkmals verhindern, als Vermeidungsmaßnahme (z.B. Betreibereinweisung, Maschinenfähigkeit). Als Entdeckungsmaßnahmen werden Maßnahmen gewertet, die eine Entdeckung des fehlerhaft hergestellten Produktmerkmals ermöglichen (z.B. sensorische Prüfung, maßliche Prüfung, Sichtprüfung). Dabei wird noch der Zeitpunkt der Entdeckung mitberücksichtigt (im erzeugenden Prozess bzw. im nachfolgenden Prozess). Leider widersprechen die neuen Bewertungstabellen im Gelbband für Auftreten und Entdeckung noch an ein paar Stellen dem gut nachvollziehbaren Denkmodell.

Einen weiteren Diskussionspunkt stellen die etwas global gehaltenenen Bewertungstabellen für das Aufteten A und die Entdeckung E in der Prozess-FMEA dar. Aufgrund der globalen Beschreibung lassen sich präzisere Einschätzungen des Fehlergeschehens, wie z.B. der Fehler wird bei jeder 500. Handlung ein- mal auftreten und wird unter 1.000 fehlerhaften Einheiten nur dreimal nicht entdeckt, nicht mehr durchführen. Hier empfiehlt es sich, eine zusätzliche Spalte mit ppm-Werten und %-Werten in die Bewertungstabellen zu integrieren, die sich an den früheren Bewertungstabellen des VDA (1996 und 2006) orientieren. Damit lässt sich eine präzisere Bewertung des Durchschlupfs zum Kunden ermitteln.

Fazit

Zukünftig wäre es wünschenswert, den Umfang der Schrift wieder zu straffen. Mit gegenwärtig 223 Seiten umfasst der aktuelle Gelbband gegenüber dem richtungsweisen- den FMEA-Band von 1996 ungefähr das 2,3-fache an Seiten. Für die stetig zunehmende Zahl an FMEA-Interessierten eine Herausforderung bei der Einarbeitung. Die Ergänzungen für Monitoring und Systemreaktionen (FMEA-MSR) hätte man vielleicht besser in einem separaten Band zur FMEA im Rahmen der „Funktionalen Sicherheit“ untergebracht. Insgesamt überwiegen die positiven Seiten des neuen FMEA-Standards nach AIAG/VDA. Für EXCEL-Nutzer allerdings bedeuten die Änderungen größere Anpassungen, weshalb dann sicherlich erneut die Frage nach der Anschaffung einer Softwarelösung aufkommen wird. Weiterhin bleibt zu hoffen, dass die kleineren Ungereimtheiten des Gelbbandes bis zum Erscheinen der endgültigen Fassung ausgebessert werden.

FMEA-Harmonisierung und BabtecQ: Ein Standard für Alle

— ein Kommentar von Katrin Stratmann, Senior Produktmanagerin bei Babtec

Bald ist es soweit: Die endgültige Verabschiedung eines einheitlichen Standards der bei- den großen Automobilverbände AIAG und VDA steht unmittelbar bevor, was auch wir sehr begrüßen. Insbesondere, wenn Sie sowohl amerikanische als auch deutsche Hersteller beliefern, wird sich Ihr FMEA-Prozess mit Sicherheit vereinfachen. Was können wir dabei für Sie tun?

Die Babtec-FMEA orientiert sich nun schon seit einigen Jahren an dem systematischen Vorgehensmodell des VDA, sodass wir die relevanten Erweiterungen für die Abbildung der harmonisierten Richtlinie darauf aufbauen können. Welche Änderungen und Erweiterungen in unserem FMEA-Modul erforderlich sein werden, haben wir bereits auf Basis des Gelbbandes identifiziert – die notwendigen Arbeitspakete sind schon konzipiert. Sobald die neue Richtlinie freigegeben und veröffentlicht ist, prüfen wir diese Konzepte auf etwaige Änderungen und starten die Implementierung in unserer Software.

Wie gewohnt werden wir die neuen vereinheitlichten Bewertungskataloge für B, A und E für Sie erstellen und in einer neuen Version von BabtecQ ausliefern. Damit erhalten Sie nun, wie gefordert, zusätzlich die Möglichkeit, eigene produktspezifische Beispiele anzugeben, die Ihre FMEA-Anwender im Einzelfall bei der Auswahl der richtigen Bewertung unterstützen sollen. Aus den bekannten Bewertungen für B, A und E ermittelt sich die neue Aufgaben-Priorität (AP), die Ihnen bei der Priorisierung der festgestellten Risiken helfen wird. Grundlage dafür bildet eine umfangreiche Matrix mit allen möglichen Kombinationen und logisch aufgebauten Erklärun- gen, die Sie zukünftig selbstverständlich auch in der Software finden werden. Die ermittelte Aufgaben-Priorität wird Ihnen aufzeigen, welche der identifizierten Risiken Sie durch die Einführung geeigneter Maßnahmen unbedingt reduzieren müssen oder sollten.

Wichtig ist uns, dass Ihre bisher erstellten freigegebenen FMEA-Versionen weiterhin unverändert Bestand haben. Zudem wird Ihnen für laufende FMEA-Projekte ein praktikabler Spielraum für den Übergang zur neuen Richtlinie gewährt. Daher werden wir die neue Bewertung anhand der Aufgaben-Priorität zusätzlich zu den bisher vorhandenen Bewertungsmöglichkeiten (RPZ, Ampelfaktor und Risikomatrizen) zur Verfügung stellen. So können Sie auch in schon vorhandenen FMEAs sowohl die RPZ als auch die AP für Ihre Entscheidungen nutzen. Selbstverständlich werden Sie auch nach wie vor eigene auf Ihre Produkte und Fertigungsprozesse abgestimmte Vorgaben für die Risikobewertung hinterlegen können. Damit bleibt die Babtec-FMEA auch weiterhin Ihr FMEA-Tool, wenn Sie in einer anderen Branche als der Automobilindustrie tätig sind.

Wie wir konkret mit der Kennzeichnung besonderer Merkmale anhand unserer Merkmalsklasse umgehen, können wir erst nach Freigabe der Richtlinie abschließend ent- scheiden. Für die Durchgängigkeit der Informationen zu einem Produktmerkmal in der Babtec-Software ist es sicherlich sinnvoll, die Kennzeichnung in der Design-FMEA beizubehalten. Eine Herausforderung wird es sein, das in der Richtlinie (Gelbband) vorgegebene FMEA-Formblatt mit einer Vielzahl zusätzlicher Spalten so zu erzeugen, dass die Inhalte Ihrer FMEAs in lesbarer Form dargestellt werden. Wir sind weiterhin gespannt auf die Veröffentlichung. Sie auch?

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