Die Gegenwart der Zukunft

2019 würden die Illusionen der Deutschen platzen, die der EU sowieso und auch in vielen anderen Ländern würde es ein sehr böses Erwachen geben. Darüber waren sich Fachleute 2018 einig. Es war grundsätzlich auch nicht von der Hand zu weisen, dass sich einiges tut in unserer Umgebung, von der wir selbst ja ein Teil sind.

Es war aber auch schon vorher ganz klar: Wir sind schon ganz lange in einer Krise. Und noch viel größere Krisen stehen uns unmittelbar bevor. Das war der Tenor in den jüngsten zurückliegenden Jahren. Wir haben das alle zum Teil mit ein wenig Sorge und zum Teil auch mit gar keiner Sorge zur Kenntnis genommen. Wenn es nicht mehr Krise ist, dann soll uns die Krise durchaus auch recht sein. Auf der Metaebene konnte man sogar so weit gehen, einen Albumtitel von Supertramp in den Raum zu stellen: „Crisis? What crisis?“ Die Zukunft schien trotz aller Krisenantizipation ungefährdet.

Die Zukunft ist spätestens seit 2020 da. Ganz anders als von allen erwartet. Niemand kann heute noch ernsthaft fragen „Crisis? What Crisis?“ Seit fast einem Jahr leben wir alle, beruflich und privat, in einer Art Krisenmodus, in einer Art gefühlten Notstand, den ersten Lockdown geschafft, im zweiten mittendrin. Und weil wir trotz Impfstoff nicht wissen, wann das alles wieder ein Ende nehmen wird, leben wir in der Gegenwart und Zukunft zugleich. Wir müssen gegenwärtig immer auf alle Optionen gleichzeitig vorbereitet sein; was der gemeine Truthahn gemeinhin nicht ist.

Der Schlaf des Truthahns

Nassim Taleb hat vor einigen Jahren sein faszinierendes Buch „Der schwarze Schwan“ veröffentlicht. Dieser dunkle Schwan hatte ja auch schon im Kritischen Rationalismus und dem Falsifikationsprinzip bei Karl Popper eine prominente Rolle gespielt. Es geht um das, was ist und was sein könnte; um das „wahr“ und „vielleicht“ und damit schlussendlich auch um die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse. Die dann aber doch wieder nicht so sehr unwahrscheinlich sind. Und es geht auch um das Induktionsproblem. Taleb verwendet dabei den Truthahn als Beispiel. Den Truthahn, dem es immer gut geht. Bis zu einem bestimmten Tag.

Am 11. März 2011 bebte im Pazifik vor Japan die Erde mit einem Energieäquivalent von geschätzt 780 Millionen Hiroshima-Bomben; oder anders relativiert: mit dem 77fachen des Weltenergiebedarfs von 2010. Das war ungeheuerlich und das bleibt es bis heute. 20.000 Tote waren zu beklagen. Ein solches Erdbeben hatte es angeblich bis dahin in dieser Region noch nie gegeben. Aber war es deswegen unwahrscheinlich?

Eben nicht. Am 09. Juli 869 hatte es in dieser Region ein ähnliches Erdbeben gegeben. Über mehrere hundert Jahre bebte dort die Erde immer weiter und immer wieder sehr stark; so zum Beispiel 1611 und 1889. Aber die Zeiträume dazwischen waren und sind zu lange, als dass die Ereignisse im Bewusstsein der Menschen hängen blieben – oder hängen bleiben könnten. Das Wissen darüber ist rational über Aufzeichnungen vorhanden. Da man es aber nicht selbst erlebt hat, oder auch niemanden kennt, die es erlebt haben, spielt es keine wesentliche Rolle mehr. Man greift auf die eigenen Erfahrungen zurück und leitet daraus induktiv, vom Kleinen zum Ganzen, die Zukunft ab. Der Truthahn frisst sich satt, setzt sich, wird schläfrig und wähnt sich in Sicherheit.

Die Zukunft des Truthahns

Der Truthahn, der über einen so langen Zeitraum zuverlässig gefüttert wurde, konnte nur den Eindruck gewinnen, dass die menschliche Rasse eine ihm wohlgesonnene ist und die Welt es gut mit ihm meint. Gestern. Heute. Und morgen? Warum sollte er Zweifel gegenüber dem Morgen haben? Wir waren Truthahn.

Nun haben wir seit 2020 Covid-19, eine Pandemie, die wir alle so nicht kannten. Es ist nicht die erste in der Menschheitsgeschichte. Aber Erfahrungen damit waren nicht mehr vorhanden. Grundsätzlich konnten wir davon ausgehen, dass die Welt es gut mit uns meinte. Mit „uns“ sind vor allem die starken Industrie- und Wirtschaftsnationen gemeint. Und plötzlich brechen ganze Branchen zusammen. Auf immer sicher geglaubte Arbeitsplätze pulverisieren sich. Selbstständige haben plötzlich kein Einkommen mehr. Vermeintlich starke Unternehmen schreien bereits vier Wochen nach dem Lockdown nach Staatshilfen. Das dem Menschen grundsätzlich innewohnende Soziale kann nur noch virtuell stattfinden. Niemand weiß, wie es weitergehen wird.  Der Truthahn ist plötzlich erwacht: Der Bauer steht vor ihm; ohne Futter, mit Messer. Es läuft schief. Plötzlich ist Pandemie. Alles ist anders. Was also tun? Klopapier kaufen?

Es bleibt anders: Die Zukunft in der BANI-Welt

Der renommierte Management- und Zukunftsdenker Stephan Grabmeier hat in dem mehr als lesenswerten Blogbeitrag „BANI vs. VUCA“ der bekannten VUKA-Welt den Ansatz der BANI-Welt entgegengestellt und abgeglichen. Der Ansatz stammt von Jamais Cascio, der in dem mit „Facing the age of chaos“ überschriebenen Artikel die Logik der BANI-Welt entwickelt hat.

VUKA, die Welt, die durch Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambivalenz gekennzeichnet war (mehr dazu im BloQ-Artikel „Schöne, neue VUKA-Welt?“), geht über in eine neue „Meta-Welt“ mit neuen Buchstaben (wenig wichtig) und neuen kennzeichnenden und erklärungspotenten Schlaglichtern (wirklich wichtig). BANI steht für Brittle (brüchig), Anxious (ängstlich), Non-Linear (nicht-linear) und Incomprehensible (unbegreiflich). Wir leben also nun in einer brüchigen, ängstlichen, nicht-linearen und unbegreiflichen, oder wie es Cascio formuliert, in einer chaotischen Welt. Mit dieser haben wir privat und beruflich jetzt umzugehen, denn eine andere Welt haben wir nicht. Alles ist plötzlich anders. Der Bauer hat die Messer gewetzt. Und nun?

Typographische Darstellung von "BANI" und den Wörtern, aus denen sich das Akronym zusammensetzt.

Diese unsere BANI-Zukunft

Brüchig: Wir sind Truthahn und müssen vielleicht erkennen, dass das, was bisher gegolten hat und so zuverlässig war, plötzlich und über (die Thanksgiving-) Nacht nicht mehr gilt. Und zwar überhaupt nicht mehr. Nicht nur die Versorgung ist eingestellt; der Versorger kommt gar mit dem Messer in den Stall. Das ist nicht nur ein wenig anders …

Ängstlich: Wir sind Truthahn. Uns ging es gut und die Welt war in Ordnung. Wir hatten zwar Krise, aber die meisten von uns nahmen die Krise nicht wahr, denn der Bauer kam weiter zuverlässig. Wir haben sogar über einen größeren Stall nachgedacht. Einfach, weil wir es konnten. Plötzlich wissen wir, dass es Thanksgiving wirklich gibt. Und das können wir nicht mehr verdrängen …

Nicht-linear: Wir sind Truthahn. Es geht uns gut. Vor allem geht es uns deswegen gut, weil wir von jetzt auf alle Zeit schließen. Weil es einen linearen Zusammenhang zu geben scheint; eine schlüssige Wenn-Dann-Beziehung. Der Grund der täglichen Fütterung ist für den Truthahn nicht erkennbar. Obwohl es ihn natürlich gibt …

Unbegreiflich: Wir sind Truthahn. Und wir dachten, dass wir alles im Griff hätten, was immer da auch kommen mag. Pandemien, Asteroiden, Außerirdische: Unser Erfahrungsschatz beruht auf Hollywood-Drehbüchern. Das war immer in Ordnung und unterhaltsam. Wir waren Truthahn. Und nun stellt sich heraus, dass nicht nur das bisher nie eine Rolle spielende Messer, sondern auch die Schwarzkopfkrankheit und Sonstiges mehr im Raum steht. In unserem Raum, in dem es keine offensichtliche und leicht durchschreitbare Ausgangstür zurück in die allerjüngste Vergangenheit gibt.

Die Überwindung des Truthahns

Wir alle in all unseren Rollen müssen uns nun mit einer neuen Zukunft auseinandersetzen. Das werden wir sicher schaffen. Wir müssen das auch schaffen.  Aber die Voraussetzungen sind ganz andere. Dabei geht es nicht nur um Covid-19.  Stephan Grabmeier hat das in seinem Artikel sehr treffend formuliert:

„Vielleicht reicht es, dass BANI der nagenden Furcht, die so viele von uns im Moment empfinden, einen Namen gibt; dass es anerkennt, dass es nicht nur wir sind, nicht nur dieser Ort, nicht nur dieser Zeitsprung. BANI macht die Aussage, dass das, was wir sehen, keine vorübergehende Verirrung ist, sondern eine neue Phase. […]

Etwas Massives und potenziell Überwältigendes geschieht. Alle unsere Systeme, von den globalen Handels- und Informationsnetzen bis hin zu den persönlichen Verbindungen, die wir mit unseren Freunden, Familien und Kollegen haben, alle diese Systeme verändern sich, müssen sich ändern. Und zwar grundlegend. Gründlich. Manchmal schmerzhaft. Es ist etwas, das vielleicht eine neue Sprache braucht, um es zu beschreiben. Es ist etwas, das definitiv eine neue Denkweise erfordern wird, die es zu erforschen gilt.“

Besser kann man es nicht auf den Punkt bringen.

Wir sind mehr als Truthahn. Der Truthahn muss überwunden werden.

Der Artikel ist u.a. veröffentlicht im neuen Buch von Markus Reimer:

Die Seegurke – 24 neue Gewusst-Wie Business-Reflexionen

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